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Hamburg: Stadt macht beliebtes Viertel platt, Menschen sind fassungslos – „Sieht jedes Kind sofort“

Hamburg: Stadt macht beliebtes Viertel platt, Menschen sind fassungslos – „Sieht jedes Kind sofort“

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Sind die neuen Pläne die Lösung im Streit um die Sternbrücke in Hamburg? Foto: imago/Frank Brexel

Hamburg. 

Es war noch die Zeit vor der Corona-Pandemie, als in Hamburg ein Ort jedes Wochenende zum Leben erwachte. Hunderte Menschen kamen zusammen, um in direkt nebeneinanderliegenden Clubs zu tanzen oder einfach nur draußen auf der Straße abzuhängen. Einmal im Jahr schlossen sich die zum Teil winzig kleinen Tanzpaläste zusammen und veranstalteten gemeinsam das „Sternbrücken-Festival“.

Das stadtbekannte „Waagenbau“ und das „Fundbüro“ waren lange für viele in Hamburg der Einstieg in die Welt der Technopartys. Hammernde Bässe unter S-Bahn- und ICE-Zügen. Die Clubs sind unterhalb der Sternbrücke zwischen Altona und der Sternschanze beheimatet, wo sich täglich Zehntausende Autos hindurchschieben und Fahrer von Außerhalb oft vom Stresemannstraßen-Blitzer erwischt werden, der ein paar Meter weiter steht und täglich viel zu tun hat.

Hamburg: Brücke soll monströsem Neubau weichen

Selbst wer hier nachts neben einer aufgedrehten Anlage steht, hört oben an der Decke noch die Züge vorbeirattern. Für viele, vor allem jüngere Menschen, ist es ein wichtiger, pulsierender Ort, an dem es sich fernab des Ballermann-Flairs der Reeperbahn gut feiern lässt.

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Das ist die Sternbrücke in Hamburg:

  • eine Eisenbahnbrücke zwischen den S-Bahn-Haltestellen Sternschanze und Holstenstraße
  • sie wurde 1893 erbaut und hat seit den 20er-Jahren ihre heutige Form
  • zwei Gleise der S-Bahn und zwei Gleise für Fernzüge trägt die Brücke
  • einer der meistfrequentiertesten innerstädtischen Gleisabschnitte in Deutschland: 900 Züge/Tag
  • etwa 50.000 Fahrzeuge unterqueren die Brücke täglich
  • unter der Sternbrücke kreuzen sich Stresemannstraße und die Max-Brauer-Allee

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Doch es gibt ein großes Problem, das seit Jahren für Unruhe sorgt: Laut Deutscher Bahn erreicht die 100 Jahre alte Sternbrücke das „Ende ihrer technischen Nutzungsdauer“.

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Da die Clubs, Kneipen und auch mehrere Häuser so eng mit der Brücke verbandelt sind, soll der Umbau ihr Ende bedeuten. Die Mietverträge liefen schon 2019 aus, wurden dann aber doch nochmal verlängert.

Vor ein paar Jahren gab es die Idee, die Clubs eines Tages auf den Grünstreifen neben dem S-Bahnhof-Sternschanze umzusiedeln. Doch daraus wurde nichts.

2020 dann bekamen die Gegner eines Neubaus starke Unterstützung – vor allem, als herauskam, was für ein monströses Bauwerk im Stil der Fehmarnsundbrücke dorthingesetzt werden soll.

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Die Hamburger Architektenkammer kritisierte im April ein „intransparentes Verfahren“ und einen Neubau, „dessen Dimensionen die Kleinteiligkeit und den Maßstab des Umfelds vollkommen negiert und sprengt.“

Hamburg: Viel Kritik am Neubau

Auch quer durch die politischen Parteien zeigte sich viele nicht glücklich mit dem Entwurf. Der Planungsausschuss des Bezirks Altona lehnte ihn ab. Regisseur-Größe Fatih Akin war ebenfalls entsetzt und forderte, Hamburg müsse mehr Wert auf seine Bauwerke legen.

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Ein Knackpunkt des Ganzen: die über 100 Jahre alte Sternbrücke hat Stützen, die auf die Kreuzung ragen. Deswegen ist der Verkehrsfluss nicht optimal. Weder für Autos, noch für Fahrradfahrer oder Fußgänger – von denen es hier wegen des Wohngebiets „Neue Mitte Altona“ laut Verkehrsbehörde bald immer mehr geben soll.

Der Grund für die Monströsität der geplanten neuen Brücke liegt darin, dass sie ohne Stützen als Stabbogenbrücke daherkommen soll.

Hamburg: Kritiker fordern Sanierung

Kritiker fordern, die alte Brücke zu sanieren. Das koste zu viel, heißt es aus der Verkehrsbehörde. Außerdem würde sich die Bauzeit um mehrere Jahre verlängern. Viele hatten gehofft, mit dem neuen Verkehrssenator – Anjes Tjarks (Grüne) – könne doch noch eine Einigung mit der Deutschen Bahn erzielt werden, die den Monster-Bau verhindert.

Nun scheinen sich diese Hoffnungen endgültig zerschlagen zu haben. „Man muss leider feststellen, dass die aktuelle Sternbrücke ein Hemmschuh für die Mobilitätswende in Hamburg ist“, sagt Anjes Tjarks auf Anfrage von MOIN.DE.

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Eigentlich bedeutet das, was der Grüne unter Mobilitätswende versteht, vor allem: weniger Autoverkehr. Doch der Neubau fördert den Autofluss möglicherweise durch das Wegfallen der Stützen und die damit verbundene Zweispurigkeit der Fahrbahn unter der Brücke.

Hamburg: Kein zweispuriger Autoverkehr unter der neuen Brücke?

Ein Grüner Verkehrssenator also, der von „Mobilitätswende“ spricht und mit der Deutschen Bahn ein kleines Viertel zugunsten des Autoverkehrs plattmachen lässt?

Nein, davon will man nichts wissen: „Wir können uns sehr gut vorstellen, für den Bus- und Radverkehr eine Spur je Fahrtrichtung freizuhalten. Das wird aber Gegenstand der zukünftigen Abstimmungen mit dem Bezirk sein“, sagt Behördensprecher Dennis Heinert zu MOIN.DE. Man wolle den Autoverkehr deutlich reduzieren.

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„Es braucht Platz für sichere Fuß- und Radwege, Platz für Busse und ihre Haltestellen. Ein Neubau gemäß den Plänen der Deutschen Bahn würde den entsprechenden Raum dafür schaffen“, rechtfertigt Tjarks den Neubau.

Hamburg: Initiative widerspricht Senator

„Eine Sanierung würde die Situation durch den zu bauenden Aufprallschutz verschlechtern“, meint der Verkehrssenator. „Was die Situation der Clubs angeht, ist es leider so, dass in keinem Szenario (Sanierung, Stützenvariante und Bogenvariante) diese an der jetzigen Stelle bleiben können“, sagt sein Sprecher Heinert.

Die Kritiker wird das nicht befrieden. Denn eine Sanierung des Bauwerks ist nicht unmöglich. Dass die Einspurigkeit und damit eine Verbesserung für Radfahrer auch jetzt schon durchführbar ist, zeigte sich, als in diesem Sommer eine Popup-Bikelane an der Sternbrücke eingerichtet wurde.

Von der „Initiative Sternbrücke“ heißt es: „Die Sternbrücke als Hemmschuh für die Mobilitätswende darzustellen, ist sachlich falsch und vorgeschoben. Jedes Kind sieht sofort, dass 20 Meter vor und hinter der Brücke die Stresemannstraße enger bleibt als die Kreuzung unter der neuen Brücke.“

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„Mobilitätswende ist – wenn gewollt – mit einer Sanierung machbar. Und Fachleute haben noch vor wenigen Wochen bestätigt, dass die Sanierung für die Stadt die kostengünstigste Lösung wäre.“

Hamburg: Auch Architektenkammer kritisiert erneut

Am Mittwoch äußerte die Hamburgische Architektenkammer erneut Kritik und bedauerte die Aussagen von Anjes Tjarks. Präsidentin Karin Loosen sagte: „Entscheidungsgrundlage dürfen nicht nur verkehrliche, sondern auch städtebauliche, freiräumliche und architektonische Kriterien sein.“

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Die neue Sternbrücke ist nicht das einzige mönströse und architektonisch wenig anschauliche Projekt, welches das Stadtbild von Hamburg in den nächsten Jahre verändern könnte. Auch das Paulihaus am nahegelegenen Neuen Pferdemarkt gehört dazu. Vom schlichten Neubaugebiet „Neue Mitte Altona“ steht schon ein großer Teil.

Filmemacher Fatih Akin sagte, für ihn komme Hamburg als Drehort immer weniger infrage.

Weil die Stadt ihre schönen alten Bauten verschwinden lässt. Andere Orte geben ihrer Historie deutlich mehr Wertschätzung.

Hamburg: Klagen und Proteste angekündigt

Es bleibt fernab der Diskussion über Mobilität und Architektur die Frage nach den Menschen. Nach jenen, die sich dort jahrelang zusammenfanden, abhingen, tanzten, wohnten und arbeiteten. Sie seien nie in die Pläne mit eingebunden worden, kritisiert die „Initiative Sternbrücke“, die sich nicht geschlagen gibt und Klagen und Proteste im Viertel ankündigt.

Die Clubs kennen den Kampf um ihre Existenz, standen schon öfter kurz vor dem Nichts, bis die Mietverträge doch verlängert wurden. Aktuell laufen sie bis Ende 2022. Der Neubau der Brücke soll 2023 starten.

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Die Verkehrsbehörde verweist auf unsere Nachfrage zur hohen kulturellen und auch hedonistischen Bedeutung des Viertels und mögliche Alternativen für die Clubs und Bars auf die Stadtentwicklungsbehörde von Dorothee Stapelfeld (SPD). Aber auch dort äußert man sich nicht und verweist weiter auf die zuständige Kulturbehörde.

„Wir sind weiterhin im regelmäßigen Gespräch mit den Clubs, um für diese eine Lösung zu finden und das kulturelle Leben an diesem Ort zu erhalten. Hierzu gibt es auch diverse Ideen, die jedoch zunächst intern mit den Betroffenen besprochen werden“, sagt Sprecher Enno Isermann.