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Hamburg: Transphobe Gewaltattacke auf St. Pauli – „Trauen sich kaum noch auf die Straße“

Auf St. Pauli in Hamburg wird eine Transfrau hinterhältig niedergeschlagen – 15 Menschen standen dabei und niemand half ihr. Es hat schlimme Folgen. Nicht nur für sie…

Hamburg
© IMAGO / Jürgen Ritter; Enrico Dato

Hamburg, meine Perle: Warum die Stadt so einzigartig ist

Mit über 1,8 Mio. Einwohner ist Hamburg die zweitgrößte Stadt Deutschlands. Außerdem kommen rund sieben Mio. Touristen pro Jahr in die Hansestadt. Doch was macht die Stadt so beliebt und einzigartig?

Es passierte an einem lauen Juli-Abend an einem Wochenende 2021 auf dem gut besuchten Kiez in Hamburg. Partygänger und Touristen bevölkern St. Pauli. Auch David Stöcker (35) Künstler und eindeutig als Transfrau erkennbar, bummelt mit einem Bekannten über die Reeperbahn. Sie ist schon voller Vorfreude auf ihren Geburtstag, den sie am nächsten Tag feiern will. David ist in der Szene besser bekannt als Dragqueen Sina Valentina. Inzwischen hat sie sich durch Operationen und Hormonbehandlungen zu einer Frau umwandeln lassen, heißt jetzt Samia.

Bei einer Größe von 1,81 Meter wiegt Samia nur 65 Kilo und wirkt sehr zierlich. Ihr Erscheinungsbild schien drei jungen Männern mit Migrationshintergrund gegen den Strich zu gehen. Vor dem Schnellrestaurant „Kentucky Fried Chicken“, nur einen Steinwurf von der Davidwache entfernt, griffen zwei von ihnen Samia zuerst ganz unverhohlen verbal an, beleidigten sie, machten sich über sie lustig und schubsten sie. Plötzlich schlug ein Dritter voller Wucht mit der Faust von der Seite gegen ihren Kopf.

Hamburg: Samia muss notoperiert werden

Samia sackte zusammen, schlug mit dem Schädel auf dem Boden auf, blutete und verlor das Bewusstsein. Als die Polizei eintraf, war der Täter bereits geflüchtet. Seine mutmaßlichen Komplizen auch. „Ich habe diesen hinterhältigen Schlag gar nicht kommen sehen“, sagt Samia zu MOIN.DE. „Erst als ich im Krankenhaus zu mir kam, begriff ich, was passiert war.“ 

Die Ärzte stellten neben einer blutenden Platzwunde, ein Schädel-Hirn-Trauma und mehrere kleinere Gehirnblutungen fest und mussten sie notoperieren. Statt ihren Geburtstag mit Freunden zu feiern, musste Samia ihn im Krankenhaus verbringen. „Es handelte sich um einen gezielten, transfeindlichen Angriff. Die Männer konnten nicht ertragen, dass ich so bin wie ich bin und dass ich so aussehe, wie ich aussehe. Ich bin nun mal eine transsexuelle Frau“, erzählt sie. „Ich gehe Streit immer aus dem Weg, habe noch niemals gegen jemanden die Hand erhoben. Was mich so fassungslos macht: 15 Zeugen standen dabei, keiner hat mir geholfen.“

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Aber es gibt Video-Aufnahmen. Die Polizei ermittelte den Täter, der mit der Faust zugeschlagen hatte, Monate später. Es stellte sich heraus, dass er kein Unbekannter ist. Fabio S. ist Kickboxer und heute 22 Jahre alt. Er bestreitet auch öffentliche Kämpfe, die man im Netz sehen kann. Auf einem Foto ballt er die Fäuste, zeigt stolz seinen muskulösen Oberkörper und eine Auszeichnung für einen gewonnenen Kampf. Anscheinend ist er einer, der gern Stunk macht. 

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Als Sina Valentina machte sich Samia Stöcker jahrelang in der Travestie-Szene in Hamburg einen Namen. Foto: Enrico Dato

„Es gibt bereits eine jugendgerichtliche Verurteilung wegen Körperverletzung“, sagt Gerichtssprecher Dr. Kai Wantzen vom Oberlandesgericht Hamburg, wo Samias Fall ab 10. Januar verhandelt wird (Az.: 119 Ls 22/22 jug/7101 Js 1213/21). 

Und selbst nachdem Fabio S. Samia schwer verletzt hatte, ließ er wohl seine Aggressionen an weiteren wehrlosen Opfern aus. Nur einen Monat später mischte er bei einem Streit zwischen zwei rivalisierenden Gruppen am ZOB Billstedt mit. Auch da soll er jemanden mit einem Faustschlag niedergestreckt und mit anderen auf das am Boden liegende Opfer eingetreten haben. Einer aus seiner Gruppe zog ein Messer und stach zu. 

Hamburg: Täter muss vors Jugendgericht

„Wegen beider Taten muss sich Fabio S. gleichzeitig vor dem Jugendschöffengericht verantworten“, sagt Dr. Kai Wantzen. Im Fall Samia wegen „vorsätzlicher Körperverletzung“, wegen dem Billstedt-Battle wegen „gefährlicher Körperverletzung“, weil da ein Messer im Spiel war. 

Warum nur Jugendgericht? Da Fabio S. zum Zeitpunkt der Taten noch knapp unter 21 Jahre alt war, gilt er als Heranwachsender. „Es kann eine Geldstrafe verhängt werden“, sagt Dr. Kai Wantzen weiter. „Das Höchstmaß einer gegen einen Heranwachsenden zu verhängenden Jugendstrafe liegt bei 10 Jahren.“


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„Für meine Heilung ist es enorm wichtig, dass der Täter eine gerechte Strafe mit Freiheitsentzug bekommt, damit er mal in Ruhe nachdenken kann, was er angerichtet hat“, sagt Samia, deren Beziehung mit einem Afghanen sehr unter den Auswirkungen leidet. „Ich komme seit dem schrecklichen Übergriff vor 16 Monaten nicht zur Ruhe, musste zur Traumatherapie ins UKE, werde vom Weißen Ring betreut, bekomme eine sogenannte psychosoziale Prozessbegleitung, fange in dieser Woche noch eine Therapie für Gewaltopfer an. Ich bin arbeitsunfähig, kann nicht schlafen, habe Alpträume, gehe kaum unter Leute, vertraue niemandem.“

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Dieses Foto entstand an dem Abend des Überfalls. Da war Samia gerade auf dem Weg zu ihrem Kiez-Bummel. Nur ein paar Stunden später wurde sie bewusstlos geschlagen. Foto: Privat

Aber das Schlimmste sind für Samia nicht ihre sichtbaren Wunden. „Menschen wie ich trauen sich seit einiger Zeit abends kaum noch auf die Straße. Wir sind zunehmend transphoben Angriffen ausgesetzt, meistens von Männern, die aus fremden Kulturen stammen und die uns verachten. Ich bin selbst am Hauptbahnhof schon mal mit dem Tod bedroht worden, sollte ich nicht sofort verschwinden. Niemand schützt uns vor solchen Leuten“, sagt sie. „Ich wünsche mir mehr politische Einflussnahme, Sicherheit und verstärkte Polizeipräsenz besonders in Brennpunkten wie dem Kiez oder St. Georg. Seit 2020 finden statistisch deutschlandweit 50 Prozent mehr Übergriffe auf Trans-Personen und Schwule statt als zuvor. So kann es doch nicht weitergehen.“