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Hamburg & Deutschland: Virus überrollt das Land – „Kinder sterben, weil wir sie nicht mehr versorgen können“

In Deutschland schlagen Kinderkliniken Alarm, die Versorgung ist stellenweise nicht mehr gesichert. Auch in Hamburg spitzt sich die Lage zu.

© picture alliance/dpa | Marijan Murat

Hamburg: Wetten, dass hast du über unsere Stadt noch nicht gewusst

Man kann es kaum glauben und doch passiert es jetzt erneut in Deutschland: „Kinder sterben, weil wir sie nicht mehr versorgen können.“ Das sagte kürzlich der Leitende Oberarzt der Kinderintensivmedizin an der Medizinischen Hochschule Hannover, Michael Sasse. Auch in Hamburg ist die Situation teilweise angespannt, wie MOIN.DE in Erfahrung brachte.

So gut die medizinische Versorgung hierzulande eigentlich ist – besonders in Städten wie Hamburg – so muss mittlerweile auch der letzte einsehen, dass das Gesundheitssystem auf der letzten Rille fährt. Und teilweise auch darüber hinaus.

Hamburg: „Situation ist angespannt“

Überbelegte Patientenzimmer, tagelanger Aufenthalt in der Notaufnahme, Verlegung von kranken Babys in mehr als 100 Kilometer entfernte Krankenhäuser: Die aktuelle Welle von Atemwegsinfekten bringt Kinderkliniken an ihre Grenzen. In den kommenden Wochen sei mit weiter steigenden Zahlen zu rechnen, hatte es im RKI-Wochenbericht vergangener Woche geheißen.

Die enorme Welle von Infektionen mit dem Respiratorischen Synzytial-Virus (RSV) verschlimmert die Situation. „Jetzt werden drei Jahrgänge von Kindern diese Infekte durchmachen, weil sie ohne Mundschutz durch die Gegend rennen“, sagte Oberarzt Sasse aus Hannover mit Blick auf die aufgehobenen Corona-Beschränkungen. Das überfordere die Kliniken in „totaler Weise“. Inzwischen würden Kinder auf Normalstationen behandelt, die eigentlich auf Intensivstationen gehörten.

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Auf Nachfrage von MOIN.DE teilte der Direktor und leitende Arzt am Kinderkrankenhaus Altona, Philippe Stock, mit:

„Die momentane Situation im Altonaer Kinderkrankenhaus ist angespannt und der Andrang von Eltern mit ihren Kindern wirklich sehr groß. Pro Tag kommen drei bis vier Kinder mit RS-Virus in das AKK. In der Regel liegen diese auf Normalstation, schwere Fälle kommen auf die Intensivstation. Einen Großteil der Kinder behandeln wir aktuell stationär und viele benötigen zusätzlichen Sauerstoff.“

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Hamburg: Deutliche Zunahme der Fälle

Seit Beginn der RSV-Zeit waren schon über 100 Kinder im Kinderkrankenhaus Altona vorstellig. Über 90 mussten stationär aufgenommen werden, etwa 10 Prozent davon kamen auf die Intensivstation. Philippe Stock sagt: „Derzeit sind unsere Bettenkapazitäten sehr beansprucht: Viele Kinder müssen überwacht werden, bekommen Sauerstoff und haben aufgrund ihrer Atemnot einen sehr hohen pflegerischen Betreuungsbedarf. Die Eltern machen sich berechtigterweise Sorgen, wenn ihr neugeborenes Baby oder kleines Kind zusätzlichen Sauerstoff benötigt.“

Der stellvertretende Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin am Universitätsklinikum in Hamburg-Eppendorf (UKE), Jun Oh, berichtet auf Anfrage von MOIN.DE:

„Auch im Kinder-UKE verzeichnen wir zurzeit eine erhöhte Anzahl von kleinen Kindern mit Atemwegsinfektionen. Vor allem Infektionen mit dem RS-Virus haben zugenommen. In den vergangenen Wochen wurden bereits vermehrt Kinder mit dem RSV oder anderen viralen Infektionen der oberen Luftwege im Kinder-UKE stationär behandelt, aktuell sehen wir eine deutliche Zunahme der Fälle. Die Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit dem RS-Virus im Kinder-UKE ist derzeit sichergestellt.“

Hamburg und Deutschland: Mediziner fordern bessere Bedingungen

In Kinderkliniken in ganz Deutschland gibt es teilweise nur noch wenige freie (Intensiv-) Betten. Das ergab eine Umfrage unter 130 von ihnen (insgesamt sind es um die 350). Der Umfrage zufolge meldeten beispielweise am 24. November 47 Kliniken null verfügbare Betten, 44 Krankenhäuser nur noch ein freies Bett. Insgesamt gab es an dem Tag bundesweit nur noch 83 freie Betten. Und um diese wenigen Betten wiederum konkurrieren kleine Patienten aus der Notaufnahme im eigenen Haus oder von den Rettungsdiensten. Hinzu kämen Anfragen von Kliniken mit einer geringeren Versorgungsstufe. „Da sehen wir, dass jede zweite Klinik in den letzten 24 Stunden ein Kind ablehnen musste“, sagte der Divi-Generalsekretär Florian Hoffmann.

Weil alle Betten voll waren, wurde zum Beispiel aus der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) in der Nacht zu Freitag ein Kind nach Magdeburg verlegt, Entfernung rund 150 Kilometer. „Meine Kollegen hatten 21 Kliniken angerufen“, berichtete Gesine Hansen, Ärztliche Direktorin der MHH-Klinik. Das etwa einjährige Kind hatte eine RSV-Infektion, die vor allem für die Jüngsten und Kinder mit Vorerkrankungen lebensbedrohlich werden kann. Es würden aber keine Kinder in einem sehr schlechten Gesundheitszustand verlegt, betont Hansen.

Divi-Generalsekretär Hoffmann sagte, die Lage auf den Intensivstationen liege nicht allein an der aktuellen RSV-Welle. Das Problem sei vielmehr über die vergangenen Jahre immer größer geworden. Die Intensivmediziner fordern unter anderem sofort bessere Arbeitsbedingungen in den Kinderkliniken, den Aufbau telemedizinischer Netzwerke zwischen den pädiatrischen Einrichtungen und den Aufbau von spezialisierten Kinderintensiv-Transportsystemen.


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Hamburg und Deutschland: Das sollten Eltern beachten

Nach Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI) kommen weltweit geschätzt 5,6 schwere Fälle von RSV-Atemwegserkrankungen pro 1.000 Kinder im ersten Lebensjahr vor. Innerhalb des ersten Lebensjahres hätten normalerweise 50 bis 70 Prozent und bis zum Ende des zweiten Lebensjahres nahezu alle Kinder mindestens eine Infektion mit RSV durchgemacht.

Im Zuge der Corona-Schutzmaßnahmen waren viele solche Infektionen allerdings zeitweise ausgeblieben. Nicht nur in Deutschland, generell auf der Nordhalbkugel gibt es Experten zufolge derzeit ein starkes RSV-Infektionsgeschehen. Betroffen sind jeweils viele Kinder von ein oder zwei Jahren, die – auch angesichts der Corona-Pandemie und der dagegen getroffenen Maßnahmen – bisher keinerlei Kontakt zum RS-Virus hatten.

Die Kindermediziner sehen jedoch nicht die Pandemie als primäre Ursache der teils dramatischen Situation in den Kliniken. „Dass Kinderleben im Moment in Gefahr sind, das hat die Politik zu verantworten“, sagte Jakob Maske, Sprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte. Früher seien ganz andere Wirtschaftlichkeitskriterien an die Pädiatrie, also Kinderheilkunde, gestellt worden. „Jetzt muss Medizin profitabel sein, nicht Krankheiten heilen, sondern Geld bringen.“

Laut des stellvertretenden Direktors Jun Oh vom UKE in Hamburg sei eine Immunisierung gegen das RS-Virus dringend empfehlenswert. Eltern sollten bei Anzeichen einer Infektion der oberen Luftwege frühzeitig einen Kinderarzt beziehungsweise eine Kinderärztin aufsuchen, um überprüfen zu lassen, ob eine Infektion mit dem RS-Virus vorliegt. Vor allem Familien mit Neugeborenen und Kleinkindern sollten die bisher geltenden Hygienemaßnahmen weiter einhalten, um schwere Verläufe zu vermeiden.“

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Hamburg & Deutschland: Das sagt Karl Lauterbach

Gesundheitsminister Karl Lauterbach will die Probleme in den Kinderkliniken angehen. Er sagte: „Wir helfen den Kindern nun unmittelbar mit fünf Maßnahmen: mit Personalverlegung aus regulären Stationen auf Kinderstationen und Fortschreibung der telefonischen Krankschreibung auch durch Kinderärzte. Nicht notwendige Vorsorgeuntersuchungen sollten verschoben werden. Die telemedizinische Beratung von Eltern erkrankter Kinder wird explizit angeboten.“

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Der Bundestag beschloss am Freitag (2. Dezember) zudem eine Krankenhausreform, die laut Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) der „Beginn einer Revolution“ sei. Sie soll vor allem Eines ändern: Dass durch die Fallpauschalen die Ökonomie vor der Medizin steht und Menge und billige Leistung Gewinn machen, ähnlich wie in einem Discounter-Supermarkt.

„Das benachteiligt gewinnfreie Bereiche: Kinder, Pflege, Hebammen, Geburtshilfe. Im Gesetz von heute werden Regeln umgesetzt, die dort die Fallpauschalen entschärfen. Aber das reicht nicht. Nächsten Dienstag wird eine große Reform als Alternative zu den Fallpauschalen vorgestellt.“

Karl Lauterbach auf Twitter

Ein Beispiel: Bestimmte Klinikuntersuchungen sollen künftig auch ohne Übernachtung möglich und von den Krankenhäusern abzurechnen sein. Das soll tagsüber mehr Kapazitäten beim knappen Pflegepersonal schaffen, wenn Nachtschichten nicht mehr besetzt werden müssen. Vor allem für ältere Menschen entfalle so auch das oft problematische Gewöhnen an die neue Umgebung. Ansteckungsrisiken würden verringert, heißt es im Entwurf. Möglich sein sollen Tagesbehandlungen nur mit Einwilligung der Patienten. Medizinisch dürften sie für komplexe oder risikoreiche Behandlungen in der Regel nicht in Betracht kommen.

Lieber im Krankenhaus bleiben sollten Patienten auch, wenn zu Hause eine Versorgung über Nacht nicht gesichert ist. Generell geht es um Klinikaufenthalte von mindestens sechs Stunden. Wenn nach der ersten Aufnahme weitere Fahrtkosten anfallen, müssen Patienten sie selbst bezahlen. Das Gesetz soll daneben bisherige finanzielle Anreize beseitigen, die zu höher vergüteten Klinikaufenthalten führen, obwohl es auch ambulant und ohne Unterbringung gehen würde. (mit dpa)