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Hamburg: Obdachlose Frau packt über Straße aus – „Bleibe nachts so lange wie möglich wach“

Hamburg ist ein gefährliches Pflaster für Obdachlose. Eine Frau packt aus, erzählt, wie sie nachts so lange wie möglich wach bleibe.

Hamburg
© IMAGO / Levine-Roberts

Verbrechen in Hamburg: So viel Arbeit hat die Polizei in der Hansestadt

Hamburg ist Hauptstadt der Obdachlosigkeit: In der Hansestadt leben knapp 30.000 Menschen ohne Wohnung – trauriger Rekord in Deutschland. Erst im vergangenen Jahr lag die Zahl noch deutlich niedriger, lag bei rund 19.000. Doch auch die Zahl an Gewalttaten gegenüber Obdachlosen ist stark gestiegen.

„Heute gibt es viel mehr Menschen auf der Straße“, betont Bärbel Bongartz, Professorin an der Internationalen Hochschule Hamburg (IU). Und: Der Hass gegenüber Minderheiten und Sozialschwachen werde stärker.

Obdachlose kämpfen ums Überleben: „Fressen oder gefressen werden“

Auch Kenny (28), Paco (26) und Jacqueline (41) wissen das aus leidvoller Erfahrung. Kenny hätte sich nach eigener Aussage auf der Straße „einen Namen“ gemacht – jeder kenne ihn, auch die Polizei. Wenn er unterwegs ist, habe er immer eine „Gartenschere“ dabei. Zur Notwehr, wie er MOIN.DE vor dem Drob Inn in der Nähe des Hauptbahnhofs verrät.

++ Hamburg: Obdachlose immer wieder angezündet – Expertin schlägt Alarm ++

Auch Kumpel Paco verteidige sich mit „Pfefferspray“. Sein Motto lautet: „Fressen oder gefressen werden“. Die Gewalt habe extrem zugenommen, sei Alltag. „Es ist ein Pulverfass“, bringt der 26-Jährige die Situation auf den Punkt. „Da wird schon mal wegen fünf Euro ein Pflasterstein geworfen. Oder jemand zückt direkt ein Messer“, erzählt er. Sowas passiere tagtäglich.

„Obdachlose haben keine Beschwerdemacht“

So auch letzte Woche: Aufgrund einer Polizeikontrolle musste Paco seine Drogen wegschmeißen – „also war ich wieder bei null“. Seine letzte Methadon-Tablette wollte er deshalb verkaufen. Doch der Käufer wollte nicht zahlen, ein Streit brach aus, Paco sprühte sein Pfefferspray. Der Käufer ging mit einer abgebrochenen Flasche auf ihn los. Doch die Polizei könne oft nicht helfen, erzählt das Trio. Paco: „Eigentlich gibt es den Kodex, dass man nicht mit der Polizei redet“.

Kriminologin Bongartz erklärt: „Das Problem ist, dass Obdachlose keine Beschwerdemacht haben. Sie gehen nicht mit Schlafsack im Schlepptau auf die Wache und sagen: ‚Da hat mir einer ins Gesicht getreten‘.“ Dadurch habe man ein verzerrtes Bild der Kriminalitätszahlen.

Hamburg: Vor allem Frauen sind gefährdet

Doch Obdachlose sind immer wieder Gewalt ausgesetzt. „Obdachlose Menschen führen ihr Leben in der Öffentlichkeit, daher sind sie besonders ungeschützt, im Alltag leicht Anfeindungen ausgesetzt und leider auch immer wieder Opfer gewalttätiger Übergriffe“, erklärt Malte Habscheidt von der Diakonie Hamburg gegenüber MOIN.DE. Man müsse wirksam etwas gegen Obdachlosigkeit tun. „Durch vernünftige Unterkünfte, in denen sich obdachlose Menschen aufhalten mögen, und vor allem durch Wohnraum“, so Habescheidt.

Besonders krass: Wohnungslose werden immer wieder angezündet und Opfer von Brandanschlägen (MOIN.DE berichtete). Und auch Jacqueline kennt die Gefahr auf der Straße, spürte sie jede Nacht. Mehrere Wochen war die 41-Jährige obdachlos, hat jetzt eine Wohnung. In der Zeit auf der Straße sei sie auf sich allein gestellt gewesen, berichtet sie MOIN.DE. „Dir hilft niemand – wenn du bewusstlos am Boden liegst, wirst du erstmal ausgeraubt“, schildert sie. Vor allem für Frauen kann es nachts gefährlich werden: „Man muss so lange wie möglich wach bleiben“.


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Die Polizei selbst verweist darauf, dass Daten zu Opfern in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) nur bei Delikten erfasst wird, für die im Strafenkatalog eine „Opfererfassung“ vorgesehen ist. Heißt im Klartext: Es müssen Delikte gegen Leben, körperliche Unversehrtheit, Freiheit und sexuelle Selbstbestimmung vorliegen.

Polizei verweist auf „Stadtteilpolizisten“

Hamburgs Polizeisprecher Thilo Marxsen zu MOIN.DE: „Straftaten zum Nachteil von Obdachlosen werden nicht gesondert gekennzeichnet. Solche Fälle werden je nach Sachverhalt unter den jeweiligen Straftatenschlüsseln erfasst. Seit dem Jahr 2022 können in Hamburg für eine indirekte Auswertung Daten zu Opfern hinsichtlich der Spezifikation ‚Obdachlosigkeit‘ ausgewertet werden. Im ersten Halbjahr 2022 wurden 165 Opferwendungen erfasst.“

Er verweist auf die „Stadtteilpolizisten“, die in ihren Betreuungsgebieten sehr gut vernetzt seien und die obdachlosen Menschen gut kennen würden. „Neben dem regelmäßigen Bestreifen der ‚Platten‘ gehört auch der persönliche Kontakt und die Frage nach dem Wohlbefinden. Im Zuge dessen werden auch Beratungsstellen und Hilfsangebote aufgezeigt.“