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Ostsee-Anwohner verrät, wie es an der Küste wirklich zugeht – und Urlaubern verheimlicht wird

Ostsee-Anwohner verrät, wie es an der Küste wirklich zugeht – und Urlaubern verheimlicht wird

Möwen Ostsee
Stürmische Zeiten an der Ostsee: Nicht alles ist Sonnenschein...

Die Zehen im feinen, weißen Sand vergraben. Sich von den Wellen im Meer treiben lassen, während über einem die kreischenden Möwen kreisen. Fischer und Angler, die im Sonnenuntergang ihren Fang aus der Ostsee an Land bringen.

So idyllisch stellen sich die meisten Urlauber einen Strand-Tag an der Ostsee vor. Eine Zeit, in der man die Seele baumeln lässt und alle Sorgen vergessen kann. Doch dass die Küste geradewegs auf eine Krise zusteuert, ist den meisten Gästen gar nicht bewusst.

Ostsee hat zahlreiche Probleme

Das liegt unter anderem daran, dass die Urlauber davon gar nichts merken sollen. Eigentlich hat die Ostsee nämlich mit einer Vielzahl von Problemen zu kämpfen: Schrumpfende Fischbestände, Plastikmüll, Überdüngung und stetig neue Bauprojekte, die in die Natur eingreifen.

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Fischer Gunnar Gerth-Hansen, der sein Leben lang zur See gefahren ist, kann davon ein Lied singen. Er beobachtete hautnah, wie sich der Zustand des Meeres über die Jahre stetig verschlechterte (MOIN.DE berichtete).

Den Urlaubsgästen hingegen ist das nur selten bewusst. Das stellt der Fehmaraner, der selbst im Tourismus tätig ist, immer wieder fest. Denn die Devise der Küstenorte laute: „Die Touristen sollen bloß nicht erfahren, was hier mit der Ostsee passiert.“

„Was wirklich hinter den Kulissen abläuft, ist eine ganz andere Welt“, stellt der Fischer klar. So beispielsweise die Überdüngung. Aus der Landwirtschaft landen noch immer Unmengen von Dünger im Meer.

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Ostsee verliert Sauerstoff

Obwohl die Landesregierung das Problem schon lange angehen wollte (MOIN.DE berichtete), hat sich bisher nichts getan. Dort, wo die Gülle ins Meer gekippt wird, wuchern Algen ohne Ende – und die zehren schlussendlich immer mehr Sauerstoff aus der Ostsee.

„In diesem Jahr ist die Algenproduktion besonders schlimm“, erzählt Gerth-Hansen im Gespräch mit MOIN.DE. An den Stränden von Fehmarn hätten sich in diesem Jahr wahnsinnig viele Algenteppiche entwickelt. „Wir haben Küstenabschnitte, da kann man gar nicht mehr entlangspazieren weil es nur Algenberge sind“, beschwert er sich.

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Das ist die Ostsee:

  • auch Baltisches Meer genannt
  • die Ostsee ist das größte Brackwassermeer der Erde
  • die Fläche beträgt 412.500 Quadratkilometer
  • sie ist bis zu 459 Meter tief

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Urlauber bemerken davon allerdings nichts, denn die touristischen Strände werden jeden Morgen geräumt und von den Gewächsen befreit, „was auch auf Fehmarn jedes Jahr mehr Geld kostet“, sagt der Fischer.

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An den Küstenabschnitten, an die es keinen Besucher verschlägt, sei das Problem aber deutlich zu sehen – und zu riechen. Denn es handele sich um absterbende Materialien. „Ein elender Gestank“, beschreibt es der Insulaner.

Angeltourismus an der Ostsee als weiteres Problem

Für die Urlauber soll es möglichst wenige Einschränkungen geben. Das habe sich auch anhand des Angeltourismus und dessen Auswirkungen auf die Berufsfischerei gezeigt. Während die Berufsfischerei im Laufe der Jahre durch Fangquoten immer mehr eingeschränkt worden ist, gab es für Freizeitfischer keine Regeln.

Das wird sich erst im kommenden Jahr anhand der neuen Fangquoten ändern (MOIN.DE berichtete). In den vergangenen Jahren hätten Freizeitfischer und Angler viel größere Mengen gefangen als die stark regulierte Berufsfischerei.

Ostsee-Küste voll mit Anglern

Gunnar Gerth-Hansen rechnet es vor: Ein Hafen nördlich von Fehmarn, der 300 Angelboote an hundert Tagen im Jahr vermietet, „auf denen jeweils vier Angler Platz haben, von denen jeder am Tag garantiert einen Kilo Fisch fängt.“

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Damit kommt man auf eine unfassbare Menge von 120 Tonnen Fisch im Jahr. An nur einem einzigen Hafen. Auch auf Fehmarn und in unzähligen weiteren Küstenorten gibt es Angelboote zu vermieten. „Zu bestimmten Jahreszeiten ist die ganze Küste belegt“, erzählt der Fischer. „Ein massives Problem.“

Immer weniger Fisch in der Ostsee

„Das sind Zahlen, die gerade von Touristikern nicht gerne erwähnt werden“, sagt der Fehmaraner. Schließlich handele es sich beim Tourismus um einen bedeutenden Wirtschaftsfaktor für die Küste. Kein Wunder, dass Negatives da gerne mal unter den Tisch gekehrt wird.

Viele Berufsfischer kämpfen aufgrund der immer geringer werdenden Fangquoten um ihre Existenz. Doch die eigentliche Wurzel des Problems liegt im Klimawandel. Der sorgt nämlich dafür, dass die Fischbestände kontinuierlich abnehmen.

Ebenfalls eine Tatsache, die vielen Urlaubern laut Gerth-Hansen nicht bewusst sei. „Es herrscht ja kein Fischmangel“, so der Insulaner. Den Besuchern werde durch die Gastronomie vorgegaukelt, dass mehr als genug Fisch in der Ostsee vorhanden sei.

Fisch kommt nicht mehr aus der Ostsee

Dass der Großteil des Fisches aber gar nicht aus der heimischen See kommt, weiß kaum ein Gast. „Wir sind global natürlich so vernetzt, dass wir irgendwo unseren Fisch herkriegen“, stellt der Fehmaraner fest.

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Das ist Fehmarn:

  • Fehmarn ist nach Rügen und Usedom die drittgrößte Insel Deutschlands
  • Es ist die einzige Ostsee-Insel Schleswig-Holsteins
  • Die Fehmarnsundbrücke, die Fehmarn mit dem Festland verbindet, ist 963 Meter lang
  • Fehmarn zählt rund 12.600 Einwohner
  • Auf der Insel gibt es vier Naturschutzgebiete
  • Der 17,6 Kilometer lange Fehmarnbelttunnel soll Fehmarn mit der dänischen Insel Lolland verbinden; die Eröffnung ist für 2029 geplant

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Vor 20 Jahren habe er selbst noch Gaststätten und Hotels beliefert. Heute kenne er keinen einzigen Fischer mehr, der das noch tue. Das führt dazu, dass „ein Großteil dessen, was es in der Region gibt, TK-Ware ist, von der kein Mensch weiß, wo sie herkommt“, sagt der Fischer.

Bieten die Gastronomen das Gericht trotzdem als regionale Spezialität an, gebe es für die Besucher keinen Grund, die Herkunft des Fisches anzuzweifeln. „Es kommt alles gar nicht aus der Ostsee, aber die Leute glauben es“, seufzt Gerth-Hansen.

Würde die Situation auf den Tellern tatsächlich die Lage im Meer widerspiegeln, gebe es in Zukunft kaum noch Fisch in den Küstenorten zu essen – und das Problembewusstsein der Leute würde möglichweise wachsen.

Ostsee-Urlauber schockiert

„Es wird viel zu wenig gemacht, um den Leuten zu zeigen, wo der Zug hinfährt“, fasst der Fischer zusammen. Er selbst nimmt auf seinem kleinen Boot auch Urlauber mit zum Fischen auf die See.

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Bei den Ausflügen steht er den Gästen Rede und Antwort und klärt über die Situation der Ostsee auf. Über die Dinge, die im Meer ablaufen und den Urlaubern verborgen bleiben. „Da schaut keiner rein. Die See sieht friedlich aus, man kann darin baden und alle sind zufrieden“, sagt er.

Doch wissen die Touristen einmal Bescheid darüber, wie sehr es unter der Oberfläche brodele, sei das Interesse enorm. „Viele Gäste sind schockiert über die Tatsachen, die im Hintergrund laufen, über die die Welt im Prinzip keine Ahnung hat“, berichtet er aus seinen Erfahrungen.

Sicher können die Touristen dann trotzdem noch den Sand unter den Füßen und das Rauschen des Meeres genießen. Wer um die Probleme der Ostsee weiß, weiß die Zeit am Meer vielleicht sogar noch zu schätzen – und geht in Zukunft bewusster mit der Natur an der Küste um.