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Rostock: Er kam als Flüchtling nach Deutschland – was ihn erwartete, hätte er nie für möglich gehalten! „Wir kamen in ein Kriegsgebiet“

Rostock: Er kam als Flüchtling nach Deutschland – was ihn erwartete, hätte er nie für möglich gehalten! „Wir kamen in ein Kriegsgebiet“

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Seyhmus Atay-Lichtermann liebt Rostock. Aber seine Anfangszeit in der Hansestadt war sehr schwer. Foto: privat & IMAGO / Christian Ditsch

„Ich liebe Rostock“, sagt Seyhmus Atay-Lichtermann mit fester Stimme und beginnt zu schwärmen: „Ich kann mir keinen besseren Ort auf der Welt vorstellen. Wenn ich mal zwei Tage woanders bin, kriege ich gleich Heimweh.“ Jetzt.

Am Anfang wollte er nur eins: weg von hier. Er hatte allen Grund dazu. Atay-Lichtermann und seine Familie kamen Ende der 90er-Jahre als Flüchtlinge nach Rostock.

Rostock: Die Kinder sollten in einer kleineren Stadt aufwachsen

In der Hansestadt angekommen wurden sie von Skinheads bedroht und schikaniert. Heute, rund 20 Jahre später, ist Atay-Lichtermann Kandidat für Die Linke bei der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern (MV).

Der Wirtschaftsjurist und Vater zweier Kinder ist politisch und ehrenamtlich bereits sehr aktiv. Er ist Vorsitzender des Migrantenrats Rostock, Mitbegründer der Initiative MV für Kobane und engagiert sich als Sprachmittler und Berater in rechtlichen Belangen für Zugewanderte.

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Atay-Lichtermann war 14, als er 1999 mit seiner Mutter und seinen Geschwistern aus dem kurdischen Teil der Türkei nach Rostock kam. Sein Vater, ein Fotograf und Journalist, hatte sich der Regierung gegenüber kritisch geäußert. Er erhielt Asyl in Deutschland. 1996 kam er nach Hamburg. Doch dort sollten seine Kinder nicht aufwachsen, sondern in einer kleineren Stadt, „wo wir uns schneller integrieren können und unsere eigene Community nicht so groß ist“.

Und so wurde es Rostock. Und ein sehr, sehr schwerer Start. Rostock-Lichtenhagen war dem damals 14-Jährigen kein Begriff. Über die schrecklichen Ausschreitungen gegen Asylbewerber im Sommer 1992 lernte er erst später in der Schule.

Rostock: „Wir kamen in ein Kriegsgebiet“

Über seine Ankunftszeit in Rostock sagt Atay-Lichtermann: „Wir kamen in ein Kriegsgebiet. Wir lebten in einem Haus mit lauter Skinheads. Ich weiß nicht, was sich die Behörden dabei gedacht hatten, uns eine Wohnung in diesem Haus zu geben. Wir wurden ständig angepöbelt. Jede Nacht um vier Uhr klopften Skinheads an unsere Tür. Sie bedrohten uns.“

Er erinnert sich an einen Ausflug nach Warnemünde: „Wir sind von einer Horde von 30 Skinheads verprügelt worden. Mein Vater rief die Polizei. Aber die kam einfach nicht.“ Die Kinder machten dem Vater Vorwürfe: „Wir hatten damals viel Streit mit Papa, meine Geschwister und ich. Wir haben nicht verstanden: Warum sind wir hier? Wir wollten zurück. Daheim war es viel besser.“

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Das ist Rostock:

  • Die größte Stadt unter den 84 Städten des Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern ist Rostock
  • Dort leben rund 209.000 Menschen (Stand: 2019)
  • Die Hafenstadt reizt doch ihre attraktive Lage an der Ostsee
  • Bekannt ist sie außerdem als Universitätsstadt mit der im Jahr 1419 gegründeten Uni
  • Rostock ist nicht nur ein beliebter Urlaubsort, sondern auch Wirtschafts- und Verkehrsknotenpunkt im Norden Deutschlands

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Es dauerte ein Jahr, dann wurde es auch in Rostock besser. Weil er dann Deutsch konnte. „Das macht viel aus“, sagt Atay-Lichtermann und zieht klare politische Folgerungen daraus: „Deshalb ist es auch ganz wichtig, dass Flüchtlinge dezentral untergebracht sind. Wer fünf Jahre lang in einer zentralen Unterbringung lebt, hat gar nicht die Möglichkeit, sich zu integrieren oder die Sprache richtig zu lernen. Wenn man über eine Kultur lachen kann, dann ist Integration gelungen. Als ich kapiert habe, dass Norddeutsche auch untereinander eiskalt sind, hat mir das viel geholfen.“

Er könne nicht genau sagen, woran es lag, aber im Jahr 2004 habe sich die Stimmung dann deutlich gewandelt. „Womöglich hatte die Sensibilisierung zum Thema Rassismus gewirkt. Plötzlich waren viel weniger Skinheads unterwegs.“

Es folgte eine ruhige Zeit. Zehn Jahre lang habe er sich über Rassismus und Integration keine Gedanken mehr gemacht. „Das hat sich 2015 geändert. Nach der sogenannten Flüchtlingswelle war die Stimmung gekippt. Die AfD kam auf und hat ihre Hetze verbreitet.“

Rostock: „Ich glaube, die AfD hat mich noch nicht richtig auf dem Schirm“

Dieses Jahr ist nicht nur Landtagswahl in MV, sondern auch Bundestagswahl. Einen traurigen Tiefpunkt erreichte der Bundestagswahlkampf bereits im Frühjahr. Als erster syrischer Flüchtling hatte der Menschenrechtsaktivist Tareq Alaows für die Grünen ins Parlament einziehen wollen. Doch er zog seine Kandidatur zurück, weil er und seine Familie Morddrohungen erhalten hatten.

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Landtagswahl MV:

  • Am 26. September 2021, am Tag der Bundestagswahl, ist in MV auch Landtagswahl.
  • Die letzte Landtagswahl in MV war am 4. September 2016.
  • Stärkste Partei wurde 2016 die SPD (30,6 Prozent). Sie koalierte mit der CDU (19 Prozent).
  • Die AfD zog 2016 mit 20,8 Prozent als zweitstärkste Kraft ins Parlament ein, alle anderen bereits vertretenen Parteien verloren deutlich an Stimmen.
  • Bei der Wahl 2016 kam die Linke auf 13,2 Prozent. Die Grünen holten 4,8 Prozent, FDP und NPD jeweils 3 Prozent.
  • Im Landtag in Schwerin sitzen aktuell SPD, CDU, AfD und Linke.
  • Erwin Sellering wurde 2016 als Ministerpräsident bestätigt. Er zog sich 2017 krankheitsbedingt aus der Politik zurück.
  • Seit 4. Juli 2017 ist Manuela Schwesig (SPD) Ministerpräsidentin von MV .
  • Manuela Schwesig tritt bei der Landtagswahl in MV 2021 als Spitzenkandidatin der SPD an.

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Atay-Lichtermann sagt über seinen Wahlkampf: „Ich glaube, die AfD hat mich noch nicht richtig auf dem Schirm. Mal sehen, was noch kommt. Angst habe ich nicht. Ich habe mich an Anfeindungen gewöhnt. Sollte es gegen meine Familie gehen, meine Frau und meine beiden Kinder, dann ist das nochmals ein anderes Thema. Aber mich kriegen die so schnell nicht unter.“ Er richte seinen Wahlkampf ganz klar gegen die AfD aus. „Gegen ihren Fremdenhass und die Spaltung der Gesellschaft, die sie betreibt.“

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Er habe in den letzten Jahren viele Gespräche geführt mit Menschen, die sich über Ausländer beschwert haben. Menschen, die sagen, dass Ausländern Geld hinterhergeschmissen werde. „Als Jurist kann ich dann immer gleich widersprechen und sagen, wie die Sachlage ist. Wenn ich diesen Menschen dann sage, dass ich auch als Flüchtling nach Deutschland gekommen bin und Migrationshintergrund habe, sagen sie, das hätten sie gar nicht gemerkt. Ich sei eine große Ausnahme. Aber das bin ich nicht.“ Das müssten die Leute verstehen.

„Meine Frau ist Jüdin, ich bin Muslim. Auch da müssen wir uns ganz oft was anhören. Viele Menschen können sich das nicht vorstellen. Dabei ist es ganz normal. Mit ideologischen Rassisten kann man nicht reden. Aber es gibt viele andere Menschen, da hilft der Dialog.“

Rostock: „Uns fehlt es an Vorbildern“

Mitglied bei den Linken ist Seyhmus Atay-Lichtermann seit 2006. Für ihn ist es „die Friedenspartei“, „die alleinige und einzige Partei, die sich konsequent gegen Auslandseinsätze stellt und Waffenexporte ablehnt. Ich habe erlebt, wie unser Dorf in der Türkei mit deutschen Panzern zerstört wurde. Zweitens ist für mich klar, dass wir Umweltfragen nicht lösen können, ohne den Superkapitalismus zu kritisieren.“

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Für das Parlament in Schwerin wünscht sich der Kandidat mehr Diversität. „Allein in MV leben 80.000 Menschen mit Migrationshintergrund. Sie sollten auch im Parlament sichtbar sein.“ Das Hauptproblem, warum es so wenige Menschen mit Migrationshintergrund in der Politik gebe, seien die Strukturen.

„Da sind innerparteiliche Machtkämpfe, die viele abschrecken. Und es fehlt an Vorbildern.“ Nach der Landtagswahl im September wäre Seyhmus Atay-Lichtermann gerne so ein Vorbild.